Granatsplitter

GRANATSPLITTER (Eintrag: 20.07.2011, © Marcus Schütz)

Eine alte Dame sitzt mir gegenüber. Alt wie gesagt, rundlich, schwerfällig. Sie hat sich bis in den vierten Stock hoch geschleppt und japst noch nach Luft, wie ein Goldfisch in einem zu kleinen Aquarium. Wie ich ihr denn Helfen könne. Sie schaut mich merkwürdig an, ihr Blick ist irgendwie gebrochen. Es sind die Knochen, sagt sie. Da bin ich Spezialist. Sie will aber keine Behandlung. Sie will meinen Rat. Sie sei immer zur Kur gefahren. Ja, da gibt es heute gute Möglichkeiten. Schon im Mittelalter sind die Leute nach Bad Wilsnack gepilgert, denke ich, um durch den Anblick der blutenden Hostien geheilt zu werden. Oft war die kleine Kirche so voll, dass die meisten Pilger nicht einmal das Innere des heiligen Raumes geschweige denn die Hostien zu Gesicht bekamen.

Sie könne jetzt nicht mehr so gut laufen, die Arthrose. Aber es hatte ihr doch immer gut getan. Gerne sei sie in die tschechischen Bäder gefahren. Die Krankenkasse wird wohl nichts dazuzahlen. Das sei egal, sie hat die Firma ihrer Mutter übernommen. Sie produziert Untertrikotagen, Dessous sagt sie nicht. Untertrikotagen. Ich schaue auf ihr Geburtsdatum – sie ist schon Ende 80. Immer wieder bleiben meine Augen an ihrem Blick hängen. Auch das Herz mache ihr jetzt zu schaffen. Sie weiß nicht, ob sie die Strapazen der Reise überstehen wird. Oft waren die Kranken des Mittelalters so schwach, dass sie selbst nicht pilgern konnten. Sie schickten Verwandte. Bis aus Ungarn waren sie wegen der Heilung nach Bad Wilsnack gekommen. Zu Fuß. Wie lange werden sie da unterwegs gewesen sein? Ich fange an den Wunsch der Dame zu bekräftigen. Aus meiner Sicht gibt es keine Anhaltspunkte, die gegen eine Kur sprechen, sage ich. Geld spielt schließlich keine Rolle und manches Bad stärkt auch Herz und Kreislauf. Immerhin hat die Dame den Weg bis in mein Dachgeschoss geschafft. Für die Pestkranken kratzten die Pilger mit Münzen den Backstein aus der Kirchenmauer. Das Pulver brachten sie als Heilmittel mit nach hause. Viele Kranke wurden so tatsächlich geheilt.

Wieder tasten sich unsere Augäpfel gegenseitig ab. Was ist mit ihrem Blick? Es sei 45 in Berlin gewesen, gleich hier um die Ecke. Da sei eine Granate mitten auf der Strasse eingeschlagen. Ein Splitter fuhr durch ihr linkes Auge in ihr Hirn. Da liege er immer noch. Auf der Schädelbasis. Es gäbe keine guten Glasbläser mehr und die Krankenkasse zahle nur noch alle zwei Jahre ein neues Auge. Früher hätte es schließlich jedes Jahr ein neues gegeben. Was denn mit dem Granatsplitter im Hirn sei. Abgekapselt. Nur wenn sie schnell ihren Kopf drehte, werde ihr schwindlig. Da spielt aber die Arthrose nicht mehr mit, mit der schnellen Kopfbewegung. Abends nehme sie das Auge immer heraus. Ihr jetziges drücke etwas. Zusammen mit den Zähnen, hätte ich fast gefragt, bei der Vorstellung, wie sie ihr Auge in ein Wasserglas auf dem Nachttisch gleiten lässt. An ein Glasauge hatte ich wirklich nicht gedacht als sich unsere Blicke kreuzten. Ich bin begeistert wie gut das Glasauge die Bewegungen des gesunden Auges mitmacht. Meistens jedenfalls, das war so merkwürdig an ihrem Blick.