Viertes Rom

VIERTES ROM (Eintrag: 16.07.2011, © Marcus Schütz)

Als sich 988 der Kiewer Großfürst Wladimir in Anna von Byzanz, Schwester von Kaiser Basileios II. von Konstantinopel verliebte, musste der heidnische Großfürst den orthodoxen Glauben annehmen, um die Pupurgeborene heiraten zu dürfen. In einer folgenden Massentaufe der Rus am Dnjeper beendet er das Heidentum in Russland. Als Zeichen, dass nun der orthodoxe Glauben an Russland übergegangen war, sendete der Legende nach der byzantinischen Kaiser Konstantin Monomach eine goldene, mit Edelsteinen besetzte Kopfbedeckung nach Russland. Mit dieser Schapka Monomacha krönte sich Iwan der Schreckliche 1547 zum Zaren von Moskau und aller Russen. Moskau wurde „Drittes Rom“. Die russischen Zaren taten es den römischen Cäsaren nach, mit ausschweifenden Gelagen: Champus aus Crystal-Flaschen, Kaviar rot und schwarz, haufenweise Nachtigallenzungenragout und natürlich der lustvollen Penetration eines ganzen Staates von Hofdamen. Das „Zweite Rom“ war 1453 mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen untergegangen.

Nach Untergang des Zarenreiches 1917 wurde Berlin ein beliebter Wohnsitz begüterter Exilrussen. Legendär war der schwule Fürst Kropotkin – ein Nachfahre der Rurikiden – mit seinen ausschweifenden Gelagen am Ku’Damm. So hing schon in den Zwanziger Jahren der Stadt der Partytitel an. Mit dem Fall der Mauer explodierte in Berlin die Techno-Szene. Berlin wurde zur inoffiziellen Party-, Techno- und schwulen Welthauptstadt. In dampfenden Industrieruinen stampften nicht nur Extremitäten sondern auch vor allem erigierte Glieder: Love-Parade, Christopher Street Day, schwules Ostertreffen der Lederszene, Folsom Street Fair der Fetisch- und Gummiszene, Rudelficken auf Bareback- und Russisches Roulett auf HIV-Partys sowie dekadente Russendiskos erinnern an den Sündenpool ausschweifender Bacchanalien russischer und römischer Cäsaren.

Ein junger Mann liegt entkleidet bei mir auf der Liege. Wo er denn die vielen kleinen Bläschen an den Oberschenkeln her habe? Sie seien erst vor kurzem aufgetaucht, solche Pickel habe er noch nie gehabet. Aus seinen After suppt schleimiges Sekret. Ich weiß dass er schwul ist und frage, ob er denn ungeschützten Verkehr gehabt habe. Darüber möchte er nicht sprechen, es ist im peinlich. Es ist die Krankheit der Sünde, der Dichter und Denker. Heine, Nietzsche, Lenin hatte sie dahingerafft. Die Krankheit tritt in Schüben auf, zuletzt fasst sie sich Hirn und Knochen. Es soll mal eine Untersuchung gegeben haben, die Nietzsches literarische Auswüchse mit seinen Anfallspeaks parallel gesetzt habe. Sehr aufschlussreich.

1945 war ein russischer Offizier in die Praxis meines Großvaters gestiefelt. Seine Syphilis war noch ganz frisch, Penizillin gab es noch nicht. Damals hatte man die Franzosenkrankheit noch mit Quecksilberpräparaten behandelt. Mein Großvater hatte in den 20er Jahren selbst seine Doktorarbeit darüber verfasst. Es kam, wie es kommen musste: Der Offizier erlitt einen anaphylaktischen Schock, sagte kein Mucks mehr. Das hätte schlecht ausgehen können für meinen Großvater: der tote Russe auf dem Küchentisch, mein Großvater an die Wand gestellt. Er musste ihm ein adrenalinhaltiges Präparat direkt ins Herz injizieren, um den Mann wieder zum Leben zu erwecken und sein eigenes zu retten. So etwas macht man schließlich nicht alle Tage. Ich möchte nicht wissen, wie viel Schweiß auf den Offizier getropft war, bevor er wieder zu atmen anfing.

Meinem Patienten darf ich als Heilpraktiker nicht helfen. Mit seiner nicht mehr ganz frischen Infektion schicke ich ihn zum Venerologen. In meiner Praxis habe ich die „Schapka Berolina“, eine mit einem Zobelfell verbrämte und mit Edelsteinen besetzte Krone nach dem Vorbild der russischen Zarenkrone „Schapka Monomacha“ ausgestellt. „Schapka Berolona“ ist die Krone für Berlin – „Vierte Rom“, eine Stadt voller Patienten.

.